Mehr zu den Hintergründen von »Getriebene«

Ende 2016 habe ich mit der Arbeit an »Getriebene« begonnen. Ich kam gerade aus Sarajevo zurück, einer Stadt, die im Bosnienkrieg fast vier Jahre lang belagert worden war. Noch heute sind im Straßenbild die Einschläge der Granaten zu sehen. Rote Stellen im Boden (die sogenannten „Rosen von Sarajevo“) erinnern daran, wo Menschen ihr Leben verloren.

Ich spazierte durch die vielen Friedhöfe, die sich jenseits der Altstadt über die Hügelketten ziehen. Ich lief durch Schützengräben, die die serbischen Besatzer oberhalb der Stadt geschlagen hatten. Ich stieg mit eingezogenem Kopf durch einen Schmugglertunnel – Lebensmittel, Menschen, Waffen, ganze Ziegenherden waren während der Belagerung hindurch geschleust worden, heute sind es Tourist*innen.

Kaum etwas ist so eindrücklich wie das eigene Erfahren. Orte des Schreckens können daher ein wichtiges Instrument politischer Bildung sein. Doch der Grat zwischen Anteilnahme und Sensationslust ist schmal. Im „War Hostel Sarajevo“ schlafen die Gäste auf dem Boden, aus einem Lautsprecher dringt Granatenhagel. Die Gäste sollen etwas über den Krieg lernen, so der Inhaber. Wo verläuft hier der Grat des Integren? Wo verläuft er bei den Reisegruppen, die täglich an die nordkoreanische Grenze gebracht werden, um einen Blick „hinüber“ zu werfen? Wo verläuft sie bei den Tschernobyl-Touren, die bildstark in Sozialen Medien inszeniert werden? Und wie ist die Vermarktung des eigenen Leids zu beurteilen, wenn die Anbieter solcher Touren, häufig selbst Überlebende, durch ökonomische Zwänge dazu verleitet werden?

Im folgenden Jahr besuchte ich den Libanon. Im Zuge eines Programms für Journalistinnen und Journalisten war ich in Zahlé untergebracht, einer Kleinstadt im Bekaa-Tal nahe der syrischen Grenze. Allgegenwärtig die Not der Geflüchteten, die in Garagen oder Pferdeställen schlafen, da ihnen ein Flüchtlingsschutz und damit das Recht auf Unterbringung versagt wird; offenkundig das Versagen der Weltöffentlichkeit, die sich schon im Bosnienkrieg durch Untätigkeit ausgezeichnet hatte und auch in diesem Fall nicht willens oder fähig ist, den Menschenrechtsverbrechen in Syrien ein Ende zu setzen.

Regelmäßig diskutierten wir, wie sich westliche Journalist*innen solchen Themen und ihren Gesprächspartner*innen mit dem gebotenen Respekt nähern können. Gerade bei Artikeln, die sich mit der nicht-westlichen Welt beschäftigen, dominiert eine Berichterstattung der Extreme. Besonders beliebt scheinen Themen wie Homosexualität, die möglichst viel Konfliktpotential versprechen und häufig einseitige und stereotype Bilder reproduzieren (oder welch differenzierte Betrachtung ist von einem Artikel über Queers im Libanon zu erwarten, der den Titel trägt: „Zwischen lesbischen Orgasmen und radikalem Islam“ (WELT)?). Welche Wirkung hat eine solche Berichterstattung auf die Portraitierten und auf ihren Kampf um Gleichberechtigung?

Herausgekommen ist ein Roman, der von diesen Fragestellungen und Erfahrungen beeinflusst ist, und doch gänzlich anders geraten ist. Wer an einem tieferen Einblick in die Themen interessiert ist, die im Roman mitunter aufgegriffen werden, seien folgende Links empfohlen:

JOURNALISMUS IM AUSLAND

Alexandra Rojkov (2018): Wahres schön schreiben (in: Die Zeit)

Sarah Glidden (2016): Rolling Blackouts – Dispatches from Turkey, Syria, and Iraq (Graphic Novel / Graphic Journalism, erschienen bei Drawn & Quarterly)

Marlene Halser (2014): Manchmal muss man was riskieren – Reporter über Auslandsjournalismus (Interview mit dem Journalisten Michael Obert, in: taz)

LGBTIQ+, ISLAM UND DIE ARABISCHE WELT

Rasha Younes (2020): “If Not Now, When?” Queer and Trans People Reclaim their Power in Lebanon’s Revolution (Video und Text, in: HRW.org)

Karakaya Talk (2020): Queere Muslim*innen – wir existieren! (Video, in: funk)

Saleem Haddad (2017): The Myth of the Queer Arab Life (Essay, in: The Daily Beast)

DARK TOURISM

Vanessa Steinmetz (2018): “Seid ihr nervös? Nein? Alrighty!” An der Grenze zu Nordkorea (in: Der Spiegel)

Azadê Peşmen (2018): Mein Bild vom Krieg (in: Deutschlandfunk Kultur)

Thomas Roser (2017): Kriegstourismus in Sarajevo (in: Stuttgarter Zeitung)

Pressemeldung AFP (2017): Terroranschlag als Urlaubsspaß (Video, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Dorina-Maria Buda (2017): (Dark) Tourism and Emotions in Places of Turmoil (Video, TEDx University of Groningen)

DAS KRIEGSTHEATER VON SARAJEVO – Sarajevski Ratni Teatar (SARTR)

Aleksandra Hiltmann (2018): Das Kriegstheater Sarajevo kommt nach Zürich (über das Kriegstheater «Sartr», gegründet während der Belagerung, in: Tagesanzeiger)

Mirella Sidro (2014): „Waiting for Godot“ – Annie Leibovitz besucht “Platz von Susan Sontag” in Sarajevo (in: Balkanblogger)

GELDTRANSFER VON MIGRANT*INNEN

Jenni Roth (2017): Wie das Geld zurück nach Hause kommt. Geldtransfers von Flüchtlingen und Migranten (in: Deutschlandfunk Kultur)

SÖLDNER UND PRIVATARMEEN

Nana Brink (2018): Wie die Privatisierung des Krieges voranschreitet. (in: Deutschlandfunk)

BEKAA-TAL / LIBANON

Zeina Khodr (2019): Lebanon asks Syrian refugees to demolish their houses (Video, in: Al-Jazeera)

Barrett Limoges (2017): Thousands of Syrians face eviction from Lebanon camps (in: Al-Jazeera)

Alfred Hackensberger (2017): Die Kriegsgewinnler in der Drogenküche (Reportage über die Kriegsdroge Captagon, in: Tagesanzeiger)

Stadtzentrum von Sarajevo
Baščaršija, das Stadtzentrum von Sarajevo
Libanon Bekaa-Tal an der Grenze zu Syrien
Blick über das libanesische Bekaa-Tal,
an der Grenze zu Syrien